Das Mass aller Dinge

Das Protagoras-Programm der expliziten Selbstsorge, Selbstvergewisserung und Selbstbestimmung ist einer der Kerngedanken der europäischen Aufklärung und zugleich des westlichen Selbstverständnisses. Es setzt bei dem Befund an, den Protagoras als erster zu verkünden wagte: Weil wir über die Existenz der Götter nichts wissen und darüber auch nichts wissen können, müssen wir den Menschen selbst zum Mass aller Dinge bestimmen. Oder mit und gegen den christlichen Kirchenvater Augustinus gesprochen: Wir müssen das experimentum medietatis wagen. In welcher Einstellung dies geschieht, ist eine ganz andere Frage, und welche Menschen man dabei zum Mass aller Dinge erheben kann, darf, soll oder muss, ist eine extrem schwierige Frage, die hier geklärt werden soll. Die anthropologische Studie von Lenz Prütting beschreibt die Entstehung dieses Homo-mensura-Satzes in der Antike und seine Rezeptionsgeschichte bis heute. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass der Homo-mensura-Satz nicht durch einzelne Personen, bestimmte Typen oder bestimmte Kollektive verkörpert werden kann, sondern allein in anthroponomen Strukturen zu suchen ist, die allen Menschen zu eigen sind. Das bedeutet, dass die philosophische Anthropologie die einzig legitime Erbin des Protagoras-Programms ist, um dieses Erbe angemessen zu würdigen, umzusetzen und gegen alle Feinde der europäischen Aufklärung entschlossen zu verteidigen.