

Transgenerationale Traumata: Wenn Gefühle vererbt werden
Die Psychoanalytikerin Galit Atlas beschreibt in ihrem Buch «Emotionales Erbe» anhand von berührenden und spannenden Fallgeschichten, wie sich Traumata vorangegangener Generationen an die Nachfolgenden übertragen und wie sie sich auflösen lassen.
Als junger Vater erleidet Jon plötzlich einen Nervenzusammenbruch, den er sich nicht erklären kann. Er hegt Suizidgedanken, die er auf den frühen Tod seiner Schwester zurückführt. Im Laufe einer Therapie kommt Licht in seine Vergangenheit und Jon kann den wahren Grund für seine Selbstzweifel erkennen.
Es sind die nie erzählten Geschichten, die in uns ein Gefühl des «Unfertigseins» entstehen lassen. Ich lade Sie dazu ein, sich mit mir aufzumachen, das Schweigen zu brechen, die Geister, die unsere Freiheit einschränken, aufzuspüren und zu erforschen.
Mit diesen Worten schließt die New Yorker Psychoanalytikerin Galit Atlas das Vorwort ihres neuen Buchs «Emotionales Erbe» und steigt dann ein in eine Sammlung von Fallgeschichten, die sich mit den emotionalen Spuren traumatischer Ereignisse vergangener Generationen befassen.

Transgenerationale Traumata: Wenn sich Gefühle vererben
Galit Atlas beschreibt die Geschichten von Menschen, die sie selbst als Psychoanalytikerin behandelte und scheut auch nicht davor zurück, über ihr eigenes emotionales Erbe zu sprechen. Anhand von elf Fallgeschichten beleuchtet Atlas, wie die Suche nach den Ursachen für psychische Probleme häufig im Verborgenen der Vergangenheit liegt.
Der Fachbegriff dazu: transgenerationale Traumata. Traumatische Erlebnisse also, die sich über Generationen hinweg vererben und noch bei Kindern und Enkeln psychische Auswirkungen haben können. Anhand der persönlichen Geschichten, von denen die Psychoanalytikerin in ihrem Buch erzählt, zeigt sie auf, wie im Laufe einer, oft jahrelangen, Therapie nach und nach Licht ins Dunkel der Familiengeschichten und damit oft auch in die Gefühlswelt ihrer Klientinnen und Klienten kommt.
Auf der Suche nach vergangenen Ursachen heutiger Gefühle
So beschreibt sie auch die Geschichte von Jon, der nach der Geburt seiner Tochter mit 35 einen Nervenzusammenbruch erlitt, für dessen Ursache er keine Erklärung hatte. Er hat Todessehnsucht, weiß aber nicht, woher diese rührt. Er entschließt sich zu einer Therapie und ergründet zusammen mit der Psychoanalytikerin, was zu seinem psychischen Kollaps geführt haben könnte.
Als Jon nur wenige Monate alt war, starb seine ältere Schwester bei einem Unfall. Die Mutter war daraufhin gebrochen und konnte sich nicht auf das Baby und die notwendige Fürsorge einlassen. Eines Tages erfährt Jon von seinem Bruder, dass er ein ungewolltes Kind war und die Mutter eigentlich hatte abtreiben wollen. Jon sagt im Buch: «Meine Eltern wollten kein fünftes Kind. Vier genügten ihnen. Letzten Endes blieben ihnen nur vier. Aber nicht die vier, die sie hatten haben wollen.»
Hier spannt Atlas nun den Bogen zu den zugrundeliegenden psychoanalytischen Theorien, in Jons Fall zu den Schwierigkeiten, die sich durch die Leben vieler ungewollter Kinder ziehen. Sie zitiert den Psychoanalytiker Sándro Ferenczi, der bereits 1929 einen Aufsatz mit dem Titel «Das unwillkommene Kind und sein Todestrieb» veröffentlichte, in dem er beschreibt, «dass es oftmals einen direkten Bezug zwischen der Tatsache, dass jemand als Kind ungewollt war, und seinem späteren unbewussten Todeswunsch gibt.»
Das Interessante dabei: Auch wenn Betroffene nicht um die Ursachen wissen, zeigen sich doch die psychischen Symptome vorangegangener Ereignisse. So wie Jon zum Zeitpunkt seines Zusammenbruchs nichts davon wusste, ein ungewolltes Baby gewesen zu sein. Sich aber zeitlebens mit Suizidgedanken trägt. Durch die Erkenntnis um die Ursachen dafür gibt ihm schließlich die Möglichkeit, damit seinen Frieden zu machen.
Die Fähigkeit, zu akzeptieren, was nicht geändert oder behoben werden kann, gestattet es uns, mit dem Trauern zu beginnen.
Wie Kriegstraumata der Großeltern sich bis heute auswirken
Die Geschichte von Jon findet sich im zweiten Teil des Buches, das sich mit den Spuren der Eltern in der eigenen Geschichte befasst. Im ersten Teil ergründet Atlas den Einfluss der großelterlichen Lebensgeschichten. Oft sind es Kriegstraumata, die sich noch Generationen später auf die Gefühlswelt der Nachkommen auswirken.
Etwa die Geschichte von Rachel, deren Großvater Holocaust-Überlebender war. Ihr Großvater hatte nie über das Grauen gesprochen, das er in Auschwitz erlebte. Doch schon als Kind kämpfte Rachel mit unerklärlichen Ängsten. Sie hat in ihrer Kindheit einen immer wiederkehrenden Traum, in dem sie panisch versucht, ein Baby zu verstecken. Als sie selbst Mutter wird, kehrt der Traum zurück. Schließlich erfährt sie, dass ihr Großvater damals mit seiner Frau und seinem Baby nach Ausschwitz kam. Frau und Kind wurden ermordet. Obwohl Rachel diese Geschichte zuvor nicht kannte, durchlebte sie die Angst um den Säugling in ihren Träumen.
Im dritten und letzten Teil des Buches geht es schließlich um uns selbst und wie sich der Teufelskreis der vererbten Gefühle durchbrechen lässt. Atlas befasst sich mit traumatischen Kindheitserlebnissen, die die Menschen ein Leben lang verfolgen, auch wenn sie bewusst oder unbewusst versuchen, sie zu verdrängen.. Die Ergründung dieser Ursachen negativer Gefühle hilft schließlich, das Erlebte zu verarbeiten und der Einfluss auf das Jetzt nimmt ab.
Eine Tür öffnet sich
Zwar lässt sich die Vergangenheit nicht mehr ändern, doch die Auseinandersetzung mit jenen vergangenen Ereignissen, auf die die heutige Seelenlage zumindest in Teilen zurückgeht, bringt Erleichterung. Laut Atlas beginnt sich unser Leben zum Positiven zu verändern, wenn wir unser emotionales Erbe identifizieren können und so Zusammenhänge allmählich Sinn ergeben.
Langsam öffnet sich eine Tür, ein Durchgang zwischen unserem gegenwärtigen Leben und dem vergangenen Trauma. Auf dem Weg zu unserer Heilung, lässt der Schmerz nach, und ein neuer Pfad ist erkennbar – hin zur Liebe.
Wissenschaftsredakteurin und Biologin. Ich liebe Tiere und bin fasziniert von Pflanzen, ihren Fähigkeiten und allem, was man daraus und damit machen kann. Deswegen ist mein liebster Ort immer draußen – irgendwo in der Natur, gerne in meinem wilden Garten.