Fördern statt fordern: «Ich will doch nur spielen!»
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Fördern statt fordern: «Ich will doch nur spielen!»

Ümit Yoker
18.6.2018

Fördern bedeutet bei Kleinkindern zuallererst: Ihrem angeborenen Bedürfnis, die Welt zu entdecken, im Alltag genügend Raum geben. Dazu braucht es kein Frühchinesisch, sondern Platz zum Rennen, Spielen, Auskundschaften. Welche Folgen hingegen zu viel Druck und zu hohe Erwartungen haben können, zeigt nicht zuletzt ein Blick in die Vereinigten Staaten.

Manche Eltern treibt die Frage schon um, bevor sie ihrem Kind zum ersten Mal ins Gesicht blicken: Wie viel Förderung braucht es denn? Anders lässt es sich kaum erklären, dass für werdende Mütter heute Geräte existieren, die sie sich ab Schwangerschaftswoche sechzehn in die Vagina einführen können, um das ungeborene Baby mit Beethovens Fünfter zu stimulieren.

Es gibt bisher keine Anhaltspunkte, dass sich Kinder dank vorgeburtlicher Beschallung im Kindergarten dann selbst an den Flügel setzen und Symphonien komponieren. Hingegen weiss man ziemlich sicher: Kinder wollen sich von sich aus entwickeln. Sie haben einen inneren Drang, zu wachsen und sich Fähigkeiten und Kenntnisse anzueignen. Diese Grundannahme liegt auch dem Buch «Babyjahre» des bekannten Schweizer Kinderarztes Remo Largo zugrunde. Kinder wollen vorwärtskommen, ertasten, schmecken, begreifen, sprechen – aber in ihrem eigenen Tempo. In den ersten Wochen, Monaten und Jahren des Lebens bedeutet Fördern deshalb vor allem: Eltern sollten den Alltag ihres Kindes so gestalten, dass es all diese Erfahrungen seiner Entwicklung entsprechend machen kann.

Steine, Stift und Spülmaschine

Es geht also nicht in erster Linie darum, dem Kind etwas beizubringen, sondern seiner Neugierde genügend Raum zu geben. Das kann heissen: Platz für Bewegung zu schaffen, Orte, an denen Kinder frei krabbeln, laufen und rennen dürfen. Ihnen vielfältige Materialien zum Spielen und Entdecken bieten, Steine, Wasser, Sand, aber auch Stifte oder Stoffe. Viel mit Kindern kommunizieren, auch dann, wenn sie längst noch nicht selbst in Worten antworten können. Kindern genügend Kontakt zu anderen Kindern und Erwachsenen ermöglichen. Sie am Alltag der Erwachsenen teilhaben lassen; sie das Gemüse fürs Zmittag schneiden, die Spülmaschine einräumen und auch mal den Staubsauger durch die Wohnung ziehen lassen.

Das Frühchinesisch hingegen kann man sich getrost sparen, wenn die Tochter nicht von sich aus brennendes Interesse dafür bekundet. In einer mehrsprachigen Familie aufzuwachsen, kann zwar durchaus Vorteile haben. Aber von einer Sprache, die ein Kind in einem Kurs lernt und die für seinen Alltag gänzlich irrelevant ist, bleibt in der Regel wenig hängen. Im schlechtesten Fall riskiert man damit, dass Kindern schon früh die Freude an neuen Sprachen vergeht.

Geburt der «amerikanischen Frage»

In den Vereinigten Staaten treibt Eltern die Sorge um genügend Stimulierung schon lange um. In den Sechzigerjahren wurde der Schweizer Psychologe Jean Piaget an Vorträgen in den USA so häufig gefragt, wie sich die kognitive Entwicklung von Kindern denn beschleunigen liesse, dass er dies die «amerikanische Frage» nannte. Als Europäer mag man dies als übertriebenes Verhalten der Amerikaner abtun. Damit verkenne man aber die Gründe, die dahintersteckten, ist die amerikanische Professorin Sara Harkness überzeugt. Die Anthropologin beschäftigt sich seit Langem mit der Frage, wie Eltern den Alltag ihrer Kinder gestalten und welchen Einfluss die Kultur darauf hat. «Wir Amerikaner leben in einer sehr kompetitiven Gesellschaft und gerade auf dem Arbeitsmarkt ist der Konkurrenzdruck besonders gross», sagt Harkness. Viele Eltern hätten Zweifel, ob ihre Kinder dort dereinst bestehen könnten. Hinzu komme, dass das soziale Sicherheitsnetz in den USA nicht mit den Bedingungen in Westeuropa vergleichbar sei; bezahlte Elternzeit etwa existiert in den Vereinigten Staaten nicht.

Zu viel Druck und zu grosse Erwartungen kann verheerende Folgen haben: In den Vereinigten Staaten werden viel mehr Fälle von ADHS bei Kindern diagnostiziert und medikamentös behandelt als in Europa. Natürlich müsse man als Erklärung auch in Betracht ziehen, dass die jeweiligen Schul- und Gesundheitssysteme unterschiedlich auf dieselbe Situation reagierten, sagt Harkness. Dennoch ist für sie klar: «Zu viel Stimulation und zu wenig Schlaf spielen hier eine Rolle.» Amerikanische Kinder und Jugendliche würden auch öfter unter Ängsten und Depressionen leiden. Der starke Fokus der Eltern auf die kognitive Förderung, sagt Harkness, gehe auf Kosten der emotionalen und sozialen Entwicklung.

Erwartungen hinterfragen

Das alles bedeutet keineswegs, dass man seinen Kindern etwa keine Bücher mehr vorlesen darf. Harkness stellte in ihren Studien zum Beispiel fest, dass italienische Mütter und Väter wie amerikanische Eltern das Ritual der Gutenachtgeschichte pflegen. Nur gehe es Ersteren nicht vorrangig darum, ein bestimmtes Lernziel zu erreichen und die Kinder auf die Schule vorzubereiten – sondern um einen Moment der Nähe und die Möglichkeit, Kinder zur Ruhe kommen zu lassen.

Ebenso soll die Tochter selbstverständlich einen Karatekurs belegen dürfen, wenn sie dies möchte, wie auch der Sohn seine Querflötenstunden. Aber Eltern tun gut daran, sich zwischendurch immer mal wieder zu hinterfragen, was sie sich davon erhoffen.

Titelbild: Kinder brauchen Bewegung, Spass und Spiel, keine Schachmeisterschaften und Frühchinesisch.

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Journalistin und Mutter von zwei Söhnen, beides furchtbar gerne. Mit Mann und Kindern 2014 von Zürich nach Lissabon gezogen. Schreibt ihre Texte im Café und findet auch sonst, dass es das Leben ziemlich gut mit ihr meint.<br><a href="http://uemityoker.wordpress.com/" target="_blank">uemityoker.wordpress.com</a> 


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